Autorinnen: Hilke Rater , Seline Bezen und Inga Schilff
Einleitung
Innerhalb unseres zweisemestrigen Lehrforschungsprojektes “Göttingen dekolonial. Stadtanthropologische-erinnerungspolitische Streifzüge durch Göttingens Gegenwart” im Masterstudium bei Frau Prof. Dr. Sabine Hess haben wir uns mit dem Iranisten Friedrich Carl Andreas (* 14.4.1846 Jakarta, † 4.10.1930 Göttingen) und seinen Sprachforschungen an fünf afghanischen Kriegsgefangenen beschäftigt. Dazu gehören namentlich genannt im handschriftlichen Nachlass von F. C. Andreas: Sarkis Khan, Abdul Kadir, Haydan Ali Khan, Lanee-Naik Shah Dad Khan, Naik Sunah, Shadad Khan/Sher Dil Khan (begraben auf dem Göttinger Stadtfriedhof – gestorben am 5.8.1918) /Shah Dad Khan/Shadir Khan, die auf Seiten der Britischen Armee gekämpft haben. In Göttingen waren sie als Gruppe in einer eigenen Baracke (wahrscheinlich 41) untergebracht. Weitere Daten über die Kriegsgefangenen sind im Imperial War Museum in London erhältlich.
Die Kriegsgefangenen wurden zunächst im sogenannten Halbmondlager in Wünsdorf bei Berlin interniert. Im Rahmen der phonographischen Kommission unter der Leitung von Wilhelm Doegen wurden Sprachforschungen durchgeführt, sodass der Iranist Andreas dort einen ersten Zugang zu den inhaftierten Soldaten bekommen hat. Die Sprachforschungen waren unterteilt in verschiedene Sprachfamilien, sodass Heinrich Lüders die Abteilung der ‘Orientalistik und Indologie’ übernommen hat und F.C. Andreas ihm unterstellt war. Aufgrund der nahenden Abschiebung der Kriegsgefangenen in das Osmanische Reich, sowie der aufkommenden Reisekosten, wurden die Gefangenen in das Göttinger Kriegsgefangenenlager im Ebertal verlagert. Darüber hinaus spielten wahrscheinlich auch das hohe Alter, sowie der Gesundheitszustand des Sprachforschers eine wichtige Rolle. Das lässt auch darauf schließen, dass die Sprachforschungen vornehmlich im Privathaus (Herzberger Landstraße 101) stattgefunden haben. Ziel der Sprachforschungen war es, ein globales Spracharchiv zu erstellen. Seine Forschungen beinhalteten Aufnahmen von Träumen, Geschichten, Wortgebilden, aber auch soziale und politische Fragen.
Das Göttinger Kriegsgefangenlager im 1. Weltkrieg lag am Rande der Universitätsstadt. Im heutigen Ebertal (Rewe und Wohnsiedlung) wurden im Zeitraum von 1914-1919 etwa 10.000 Menschen, vornehmlich Belgier interniert und in 200 Baracken untergebracht. Andreas’ Forschungen begannen vor Ort im Jahr 1917. Auf unserer Exkursion in das Nachbarschaftshäuschen (AWO-Häuschen) haben wir erfahren, dass es sich um ein “Vorzeigelager” gehandelt haben soll. Dies belegen auch Quellen, die wir uns im Stadtarchiv angesehen haben (u. a. StadtA GOE B 34).
Stadtfriedhof
Der Göttinger Stadtfriedhof wurde 1881 gegründet und liegt an der Kasseler Landstraße am Rand der Göttinger Weststadt im Ortsteil Grone. Hier liegen viele bedeutende Gräber von Göttinger Persönlichkeiten, die eng mit der Stadt und der Universität verknüpft sind. Unter Anderem liegen hier Otto Hahn, Max Planck und David Hilbert begraben. Auf dem Friedhof, der an eine Parklandschaft erinnert, befindet sich auch das Nobelrondell.
Biographie Friedrich Carl Andreas
Andreas kam 1846 in Batavia (Niederländisch-Indien heute Jakarta, Hauptstadt Indonesiens) zur Welt. Als er sechs Jahre als war, ließ sich seine Familie in Hamburg nieder. Im August 1866 lernen sich Lou Salomé und Friedrich Carl Andreas kennen. 1903 erhielt Andreas einen Ruf an die Universität Göttingen, wo er den, neu eingerichteten Lehrstuhl für westasiatische Sprachen leitete. Das Paar zog in ein einsam gelegenes Fachwerkhäuschen in einen alten Obstgarten auf der Rohnshöhe am Stadtwald oberhalb Göttingens (Herzberger Landstraße 101). 1930 verstarb Andreas mit 84 Jahren (vgl. Frank 2017, S. 130ff.).
Michaelishaus
Das Institut für Westasiatische Sprachen war von 1903 bis 19 im Michaelishaus angesiedelt. Das Haus liegt gegenüber von der Commerzbank in der Prinzenstraße. Heute ist dort das Private Banking von der Sparkasse untergebracht. Interessant ist festzustellen, dass sowohl auf der Homepage des Instituts für Iranistik als auch auf der Homepage des Private Banking der Sparkasse keine genaueren Informationen zu der Unterbringung im Michaelishaus gibt. Der Zeitstrahl auf der Seite der Sparkasse verweist zwar auf Sprachliche Institute der Universität, benennt aber keine genauer. Es gilt anzunehmen, dass das Institut für westasiatische Sprachen von 1903 bis 1946 dort untergebracht war. Das Michaelishaus war somit der Arbeitsplatz des Herrn Professors.
Wünsdorf „Halbmondlager“
Bereits Ende 1914 wurde in Wünsdorf bei Zossen (etwa 40 Km von Berlin entfernt) das sogenannte „Halbmondlager“ eingerichtet. Hier wurden nicht-christliche Kriegsgefangene interniert und politisch beeinflusst. Etwa 4000 muslimischen Gefangenen lebten im separaten „Halbmondlager“ zusammen. Seit 1915 war in dem Lager auch eine Moschee inkludiert. Diese war die erste Moschee auf deutschem Boden (vgl. Kaiser 1993, S. 45ff.). Die Intention des Deutschen Reiches war es, dass sich die Internierten dem Djihad (also dem Heiligen Krieg) anschließen und die Seite zugunsten des Osmanischen Reiches wechseln und somit zum Bündnispartner des Kaiserreichs werden sollten. Etwa ein Drittel aller Schellackplatten ganze 482 Stück wurden in Wünsdorf von Menschen mit Stimmen aus Afrika und Asien bespielt (vgl. Lange 2019, S. 15f.). Die Tonaufnahmen mit den Iranern und Afghanen führte der Orientalist Friedrich Carl Andreas durch. Er war selbst dem Bereich von Heinrich Lüders untergliedert, der den Bereich mongolische und indische Sprachen betreute. Selbst zeigte sich Andreas auf einem Bild mit den Gefangenen. Die Inhaftierten kamen aus Afghanistan und Belutschistan (eine Region im Osten des Irans, Süden Afghanistans und dem Südwesten Pakistans erstreckt) (vgl. Lange 2019, S. 311). Die Sprachaufnahmen machte die Kriegsgefangenen zu „Objekten“. In den Sprachaufnahmen wurden Wortgruppen quasi als Wörterbücher aufgenommen. Aber auch Märchen, Erzählungen und Anekdoten lassen sich in den Aufnahmen finden. Der Großteil der musikalischen Aufnahmen sind Gesänge in asiatischen Sprachen (vgl. Mahrenholz 2014, S. 220). Andreas konnten 16 Aufnahmen des Paschtu zugeordnet werden können, die sich wiederum auf 13 Schellackplatten befinden. Darunter seien auffallend viele Scherzlieder zu finden (vgl. Mahrenholz 2014, S. 224). Im Zusammenhang mit den Aufnahmen wurden auch Personalbögen ausgefüllt. Allerdings sind die Angaben nur vereinzelt vermerkt, sodass keine Informationen zu den familiären Hintergründen und ihren Berufen zu finden sind. Zudem lassen sich auch keine Notizen zu dem weiteren Verbleib der Kriegsgefangenen nach den Aufnahmen finden (vgl. Mahrenholz 2014, S. 226). Im heutigen Lautarchiv der Humboldt-Universität Berlin gibt es rund 1650 Schellackplatten mit Tonaufnahmen von Gefangenen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges (vgl. Lange 2019, S. 10.ff.). Das britische Empire zog sogar mehr als eine Million Soldaten aus Indien, dem heutigen Nepal und Pakistan für den Krieg heran (vgl. Lange 2019, S. 15). Anhand dieser Dimension wird deutlich, welch kleiner Teil in Wünsdorf untergebracht worden war. Die Inhaftierten wurden Mitte des Jahres 1917 aus dem „Halbmondlager“ Zossen nach Rumänien auf das Staatsgut Morile Marculesti verlegt. Schwerkranke wurden hingegen in neutrale Staaten (Schweden, Schweiz) gebracht (vgl. Ahuja 2014, S. 31).
Aleida und Jan Assmann – Gedächtnis
Im Kontext der Erstellung unseres Podcasts mussten wir immer wieder an die Begriffe des Kulturwissenschaftler-Ehepaars Jan und Aleida Assmann denken. Sie haben gemeinsam die Begriffe Kommunikatives-, Kollektives- und Kulturelles Gedächtnis entworfen und etabliert. Das Kommunikative Gedächtnis entstehe in einem Millieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion und gemeinsamer Lebensformen, Erfahrungen (vgl. Assmann 1999, S. 43). Das heißt also für uns im sprachlichen Austausch untereinander wird es weitergegeben. Das Kollektive Gedächtnis sei durch starke Reduktion und Homogenität der Inhalte gekennzeichnet. Die verstreuten individuellen Erfahrungen werden im Gruppengedächtnis zusammengeschweißt und vereinheitlicht. Das Kollektive Gedächtnis entstehe aus der Substanz einer gemeinsam geteilten Geschichtserfahrung, die als für die Gruppe so bestimmend bewertet werde, dass man sich ein Vergessensverbot auferlegt. Der gemeinsam gefaßte Beschluß: ‘das dürfen wir nicht vergessen!’ sei die Grundlage eines Kollektiven Gedächtnisses” (S. 44 Assmann 1999). Uns wurde im Entstehungskontext des Podcasts deutlich, dass es zu diesem Thema deutliche Lücken gibt. Sei es in den Archiven als auch im Bewusstsein der Göttinger*innen vor Ort. Nur wenige Menschen haben sich bislang mit diesem Kapitel der Göttinger Stadtgeschichte auseinandergesetzt. Die Grundlage für ein kollektives Gedächtnis und das hiermit verbundene Erinnern wurde durch die jahrzehntelange Abwesenheit ersetzt. Das Kulturelle Gedächtnis werde von Medien und Artefakten aufgebaut. Artefakte wie Texte, Bilder und Skulpturen neben räumlichen Arrangements wie Denkmälern, Architektur und Landschaften sowie zeitliche Arrangements wie Feste, Brauchtum und Rituale” (Assmann 1999, S. 45f.). Diese lassen sich in Göttingen finden, aber nur bei genauerem Hinsehen. Zum einen gibt es den Grabstein von Shadad Khan auf dem Stadtfriedhof. Zudem wird auf der Gedenktafel erwähnt, dass sich hier auch ein Grab eines afghanischen Kriegsgefangenen befinde.
Dennoch muss festgehalten werden, dass man diese Art des kulturellen Erinnerns noch deutlich ausweiten könnte, um in der Göttinger Zivilgesellschaft ein größeres Bewusstsein für die Zeit des 1. Weltkrieges und die damit verbunden Sichtbarmachung von afghanischen Kriegsgefangenen herzustellen beispielsweise durch die Anschaffung einer Gedenktafel oder die Verlegung von Stolpersteinen im Ebertal auf dem Gelände des ehemaligen Lagerkomplexes. Wir haben versucht durch die Möglichkeit dieses Podcasts den fünf Kriegsgefangenen eine Stimme zu geben und ihren Göttinger Alltag nachzuvollziehen.
Wie genau ihr Arbeitsalltag mit Friedrich Carl Andreas aussah bleibt ein offenes Rätsel. Uns war es wichtig einen neuen Teil der Göttinger Stadtgeschichte zu erzählen, der vielen noch unbekannt ist.
Politiken des Erinnerns – Politics of Memory
Erinnern ist nie neutral. Erinnern ist immer positioniert. Erinnern geht einher mit Narrativen, die auf Identität zielen. Das Politische des Erinnerns besteht auch in den Auslassungen. In dem was nicht erinnert wird. In den Lücken. In der Ignoranz. Politiken des Erinnerns sind nicht neutral, weil eine Auswahl stattfindet. Eine Auswahl dessen, was als erinnerungswürdig und erinnerungswert verstanden wird.
Bei den Politiken des Erinnerns handelt es sich um eine administrative Erinnerungspolitik. Was bedeutet das? Politiken des Erinnerns sind staatlich organisiert. Sie beinhalten Denkmäler, oder allgemein die Vergangenheitsaufarbeitung. Aber auch Erzählungen von bestimmten Ereignissen. Diese kollektive Erinnerung, organisiert vom Staat, schließt Menschen aus. Menschen, die sich in den Errinerungsnarrativen nicht wiederfinden. Menschen, die von der kollektiven Erinnerung ausgeschlossen werden. Erinnerung ist an Institutionen gebunden. Erinnerung kann für eigene Interessen genutzt aber auch ausgenutzt werden.
Wer hat die Macht zu entschieden, was erinnert werden soll? Eher das staatliche Oberhaupt oder marginalisierte Gruppen, die Ungleichheit und Diskriminierung ausgesetzt werden? Die Mächtigen lassen Erfahrung der weniger Machtbesitzenden außen vor. Dies erkennen wir auch in der Überlieferung der Sprachforschungen im Kriegsgefangenlager Ebertal. Archiviert, gesammelt und bewahrt wurde die Perspektive der weißen, westlichen Forscher – nicht, die der indischen und afghanischen Kriegsgefangenen. Auch im Forum Wissen erfahren wir mehr über die wissenschaftliche Forschung, als über die Menschen mit und an denen geforscht wurde. Orte des Erinnerns – Erinnerungsorte liefern meist einseitige Erzählungen. Limitieren die Interpretation der Vergangenheit durch Vorgaben. Auch hier erkennen wir eine Verbindung zu Göttingen. Das Südwestafrika-Denkmal erinnert an die gefallenen Soldaten des 2. Kurhessischen Infanterie-Regiment Nr.82. Diese waren an dem Genozid an den Herero und Nama in ehemaligen kolonialen Deutsch-Südwestafrika maßgeblich beteiligt. Erinnert wird erneut die Perspektive der weißen Männer. Die Erinnerung an die ermordeten Frauen, Kinder und Männer aus Namibia fallen aus dieser Erinnerung heraus. Limitiert wird auch die Erinnerung an Shadad Khan, der auf dem Stadtfriedhof begraben liegt. Trotzdem wird er auf keiner Erinnerungstafel namentlich genannt. Sein Name auf dem Grabstein sogar falsch geschrieben?
Das Politische im Erinnern besteht im Aktivismus von unten. Eine Erinnerungspolitik von unten. Das Politische der Erinnerung ist dynamisch. Ein Beispiel ist der Einsatz von Nicht-Staatlich- Organisierten Menschenrechtsorganisationen. Sie kämpfen für die Erinnerung von Geschehnissen, die aus dem kollektiven Erinnerungsbild des Staates gefallen sind. Die bewusst ausgelassen oder ignoriert wurden. In der Konstruktion von Erinnerung zeigt sich die Privilegierung und Marginalisierung von Menschen.
Vergessen gehört zum Erinnern dazu.
Vergessen und Erinnern gehen einher. Vergessen ist eine Praxis. Lücken werden gelassen. Fakten und Biographien von Menschen ignoriert. Die Politiken des Erinnerns stehen in einem Wechselverhältnis zu den Politiken des Vergessen Machens. Wo wird bewusst vergessen? Welche Erinnerung wird verweigert? Wo werden bewusst Lücken in der Überlieferung gelassen? Was bleibt unsichtbar? Welche Stimmen werden unsichtbar gemacht? Vergessen gemacht? Vergessen ist ein aktiver Vorgang. Etwas für das wir uns entscheiden können. Das Ziel unseres Podcasts besteht in der Umkehrung der Perspektivierung – weg von der Dominanz des weißen Gedächtnisses. So gut wir dies als weiße Menschen tun können. Wir möchten die Lücken, das Vergessens aufgreifen und thematisieren. Nicht nur das offizielle Erinnern. Wir greifen die Leerstellen der Göttinger Stadtgeschichte für euch auf. Lücken und Leerstellen, die wir nicht alle beantworten konnten. Lücken und Leerstellen, die bleiben. Lücken und Leerstellen, die nur durch unsere Vorstellungskraft gefüllt werden können. Eine Vorstellungskraft, die auf Überbleibseln der Erinnerung, versteckt in Göttingen, an die fünf Kriegsgefangenen aus Afghanistan und Belutschistan beruht. Diese waren:
Shadad Khan
Abdul Khadir
Sarkis Khan
Haydan Ali Khan
Naik Sunah
Sher Dil Khan
Lanee-Naik Sha Dad Khan
Shadir Khan
(Erinnerungspolitk im Nachkriegsdeutschland. Eine Erinnerung – Wolfgang Kaschuba 2001; The Politics of Memory – Nicole Maurantonio 2014; Politics of Memory – Mario Rufer 2012)
Werfe einen Blick in die Briefe und Quellen zum Thema der historischen SUB Göttingen aus dem Handschriften Nachlass von Friedrich Carl Andreas
Quellen/Dokumente/Briefe (Historische SUB Göttingen – Handschriften Nachlass Friedrich Carl Andreas)
„Hochverehrter Herr Professor!
Meinen herzlichsten Dank für Ihren freundlichen Brief vom 7.9.16. Es tut mir außerordentlich leid, dass Sie so haben durch die Krankheit leiden müssen. Hoffentlich erwärmt Sie die Septembersonne wieder. Erholen Sie sich ruhig noch. Die Fortsetzung der Arbeit ist nicht so eilig; Ihre Afghanen laufen Ihnen nicht fort. Auch unsere Mittel sind erschöpft. Wir sind gerade dabei, neue zu beschaffen. Bis dahin bitte ich Sie sich auszuruhen und für die spätere Arbeit zu kräftigen. Ich schreibe Ihnen noch, wann die Gelder bewilligt sind. In verbindlichster Hochachtung grüßt herzlichst ihr sehr ergebener Wilhelm Doegen“
– Wilhelm Doegen (09.09.1916) an F. C. Andreas)
“Hochverehrter Herr Professor!
Hiermit frage ich höflichst an, wann Sie wieder nach Wünsdorf, Halbmondlager, zu kommen gedenken. Ihre Afghanen fragen stets nach Ihnen und haben mir viele Grüße für Sie aufgetragen. In der Hoffnung recht bald von Ihnen zu hören, grüßt in verbindlichster Hochachtung ihr sehr ergebener Wilhelm Doegen”
– Wilhelm Doegen (18.08.1916) an F. C. Andreas)
„Göttingen, den 29. Okt. 1916
Hochverehrter Herr Professor!
Der Sanitäts-Unteroffizier, der dem hiesigen Lagerarzt zugeteilt ist, fragt an, ob die drei Gefangenen Galischof Anachip 3632 – Rurssaf Staphan 3631 – Sanaraef Platon 3633 [Aus Baracke 17], noch für wissenschaftliche Studien in Betracht kommen oder nicht. DieGefangenen, die gerne ausgetauscht werden möchten, erklären dem Sanitäts-Unteroffizier, dass siefür Sprachstudien von ihnen nicht mehr gebraucht werden. Falls dies zutrifft, so wird um gefl.Rückäusserung gebeten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr sehr ergebener“
“Lieber Herr Kollege,
Soeben höre ich von der Lagerverwaltung, dass die Afghanen, darunter die Leute, mit denen sie sich beschäftigt haben, demnächst nach der Türkei abgeschoben werden. Wenn sie noch etwas mit ihnen zu arbeiten haben, so ist es da höchste Zeit. Der eine der Afghanen – ich glaube er heißt Abdul Kadir, behauptet übrigens er bekäme 20 Mark von Ihnen. Ich weiß natürlich nicht, wie es sich damit in Wahrheit verhält. Sie sind wohl so freundlich und teilen mir mit, was ich in dieser Angelegenheit tun soll. W. Schulze und ich sind mit dem 18. September in W.[ünsdorf] gewesen und haben die Gurung Sprache aufgenommen. Morgen gehen wir nach Berlin zurück. Von Herrn Doegen hörte ich, dass es ihnen gesundheitlich nicht gut gegangen ist. Hoffentlich sind sie jetzt wieder wohl. Ich würde mich sehr freuen sie wiederzusehen, und verbleibe mit den besten Grüßen ihr ganzergebenerH. Lüders”
„Kriegs-Gefangenenlager Göttingen [Datum unbekannt]
Fürsorgeabteilung Abschrift Kriegsministerium Unterkunfts-Department Nr. 1137.4.17.U.K.
Auf dringenden, vom Kultusministerium unterstützten Antrag des Professors Andreas von der Universität Göttingen hat das Department eingwilligt, dass 4 Afghanen und ein Baludsche vom Halbmondlager bei Zossen dem Lager Göttingen auf einige Zeit überwiesen werden zum Zwecke wertvoller wissenschaftlicher Studien, die nur noch bei Anwesenheit dieser Leute in Göttingen fortzusetzen sind; eine Unterlassung würde für die Wissenschaft und auch in politischer Hinsicht ein unwiederbringlicher Verlust sein. Die Einwilligung des Departments hat zur Voraussetzung, dass die Anwesenheit und Behandlung der Leute nicht neuen Anlass zu neuer Missstimmung in der Bevölkerung gibt. Andererseits hängt der Erfolg der Studien von der Bereitwilligkeit ab, sich dazu herzugeben; sie müssen also in ihrer Versetzung nach Göttingen eine Verbesserung ihrer Lage erblicken besonders deshalb, weil sie aus diesem Anlass von dem Mitgehen nach Rumänien ausgeschlossen werden in dem Augenblick, wo ihre bisherigen Lagergenossen dorthin überführt werden, um unter verbesserten Lebensbedingungen der Aufklärung zugänglicher und für die Kriegswirtschaft verwendbar gemacht zu werden. Beiden Rücksichten den örtlichen Verhältnissen nach gerecht zu werden, wird Sache des Lagerkommandanten sein, der mit Fernspruch vorläufig unterrichtet ist. Die Vornahme der Studien wird im Lager stattfinden müssen; ob ergänzende Studien gelegentlich einer angemessenen Beschäftigung der Leute außerhalb des Lagers, worin sie voraussichtlich eine Vergünstigung erblicken würden, angängig ist, wäre mit Vorsicht zu erwägen. In erster Linie wird ihren Gewohnheiten im täglichen Leben und ihren religiösen Gebräuchen Rechnung zu tragen sein.
Der am [20.4.] festgesetzt gewesene Abtransport nach Rumänien hatte es erfordert, die vorher notwendige Abholung der 5 Kriegsgefangenen dem Lager Göttingen unmittelbar aufzutragen; sie werden bereits dort eingetroffen sein.
J.A.
gez. Hoffmann“
„Fürsorgeabteilung 3583/18 Göttingen, den 05. Oktober 1918
An die Kommandantur des Gefangenenlagers Göttingen
Der Gefangene Lannoy (3. Komp. 902) hat gebeten, aus seiner bisherigen Baracke 47 (kl. Z.) nach Baracke 5a (kl. Z.) verlegt zu werden, wo sich seine Freunde befinden. Im Hinblick auf das Zusammenarbeiten der Insassen von 5a wird die Bitte warm befürwortet. Lannoy hat sich als zuverlässig bewährt.“
“Kriegsgefangenenlager Göttingen
Fürsorgeabteilung
Göttingen, den 4. September 1918
An die Kommandantur des Gefangenenlagers Göttingen Die Herren Professoren Lüders und Schulze, die an den hierher überwiesenen 9 Gurkhas
Sprachstudien vornehmen wollen, bitten die Kommandantur:
1) Jeden der Gurkhas noch zwei Decken ausser den ihnen bereits überwiesenen zur Verfügung zu stellen,
2) In die Wohnräume der Gurkhas, Baracken 28 u. 28a, kl. Z., einen großen, im guten Zustande befindlichen Ofen hineinzusetzen, auf dem sich die Kriegsgefangenen ihr Essen gemeinsam bereiten können,
3) Zu gestatten, dass sie in dem kleinen Zimmer der Baracke 29a mit den Kriegsgefangenen arbeiten dürfen und dass ihnen zu diesem Zwecke ein Feldwebeltisch mit verschließbarer Schublade, 3 Stühle und 3 Schemel hineingestellt werden, dass außerdem das Zimmer mit einem Ofen und dem nötigen Heizvorrat versehen wird.”
“Hochverehrter lieber Herr Kollege,
Gestern Nacht bin ich nach Berlin zurückgekehrt meine erste Tat hier soll der Brief an Sie sein. Es freut mich sehr, dass sie bereit sind, die Aufnahme der Afghanen zu übernehmen. Sie haben bei dieser Arbeit in völlige Freiheit; das einzige, was von der Kommission verlangt wird, ist, dass einige Platten mit Proben der Sprache und Wortlaut auch Sänge aufgenommen werden, für deren Kontrolle der betreffende Arbeiter garantiert. Auch ist der betreffende verpflichtet, in Transkriptionen der auf der Platte festgehaltenen Texte zu liefern. Eigentliche Dialektstudien liegen nicht im Plan der für die Kommission festgesetzte Arbeit; soweit sie für die Aufnahme nötig sind, kommt aber natürlich auch die Kommission dafür auf. Die Entscheidung darüber hängt im einzelnen Falle von dem Urteil des Sachverständigen ab. Ob Ihre Anfrage, geeignete Afghanen nach Göttinger zu schicken, nachgegeben werden wird, ist nur sehr unwahrschein lich. Die Verhältnisse in dem sogenannten Halbmondlager sind, wie sie sehen werden ganz besonders. Es hat lange gedauert, ehe man uns überhaupt den Zugang zu diesem Lager gestattet hat. Daher sind auch erst ist jetzt die Karten ausgefüllt worden. Was die Karten betrifft, so mussten sie natürlich von den im Lager tätigen Offizieren ausgefüllt werden. Sie können und sollen daher von Anfang an zur ersten Orientierung dienen. Die Nachprüfung und Ergänzung ist Sache des betreffenden Bearbeiters. Hindustani sprechende Juden, die ihnen zur Hand gehen könnten, ist im Lager kein Mangel. Die größte Intelligenz ist ein Gurkha, Gangeram mit Namen, der allerdings gerade wegen seiner Gewandtheit und Anstelligkeit schon in sehr Hause beschäf tigt wird. Ob sie Herrn Siddigi mitbringen können, vermag ich nicht zu sagen. Vorläufig möchte ich raten davon abzusehen. Ohne weiteres wird ihm der Zutritt zum Lager kaum bewilligt wer den. Sollte es sich herausstellen, dass Sie seine Assistenz für absolut notwendig erachten, so muss natürlich Rat geschaffen werden. Ich glaube aber, dass die Arbeit auch mit den vorhan denen Kräften möglich sein wird. Selbstverständlich bin ich selbst gerne bereit, Ihnen zu helfen so viel ich kann, auch Wilhelm Schulze wird sicherlich dasselbe tun. Das rein geschäftliche liegt in den Händen des Herrn Wilhelm Dögen, der auch das technische der Aufnahmen besorgt. Herr Marquart hat mit der Kommission nichts zu tun und ist überhaupt bei der Aufnahme nicht beschäftigt. Ich kann nicht verstehen, dass ich seiner Zeit über die Ausfälle, die er sich in seiner Abhandung leistet, aufs Äußerste überrascht war, und Kollegen hier ist es ebenso ergangen. Über den energischen Brief, den Sie ihm geschrieben haben, bin ich sehr erfreut. Es ist mir unbegreiflich, wie er ihn 2 unbeantwortet lassen konnte, und sein Verhalten in der Frage der Ersetzung der Kosten ist mir ebenfalls unverständlich. Was die Seite der Arbeit betrifft so bezahlt die Kommission die not wendigen Reisen (zweiter Klasse) und die Tagesausgaben bis zum Betrag von 12 Mark täglich. Das ist für jetzige Verhältnisse nicht viel, aber es lässt sich in Wünsdorf damit auskommen. Stumme und andere, die vor Ostern da waren, hatten sich im Märkischen Hof in Wünsdorf einquartiert und waren dort ganz zufrieden. Ziehen Sie es vor so können sie natürlich auch in Berlin wohnen, die Zugverbindungen sind – oder waren bis jetzt – aber nicht günstig. Ich bin augenblicklich mit der Aufnahme des Gurkhas beschäftigt, kann aber wahrscheinlich erst am Sonnabend morgen wieder herausfahren. Sollten Sie am Sonnabend da sein, so werde ich even tuell die Nacht in Wünsdorf bleiben. Wir hätten dann zwei volle Tage, Sonnabend und Sonntag, zur Verfügung; eventuell könnte ich mich auch noch für Montag frei machen. Könnten Sie nicht vielleicht auch die Arbeit an den Inschriften so weit fördern, dass ein Teil gesammelt werden könnte. Dann würde ich die orientalische Kommission veranlassen, Ihnen die Auslagen, die sie früher gehabt haben, zu ersetzen.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr H. Lüders Wünsdorf”
“Sehr geehrter Herr
Auf Wunsch des Preußischen Kulturministeriums soll von der Phonographischen Kommission ein möglichst kurzer, aber umfassender Bericht über die gesamte Tätigkeit der Kommissionsarbeiten innerhalb 3 Wochen eingereicht werden. Zu dem Zweck werden Sie von der Phonografischen Kommission höflichst gebeten, einen Bericht über Ihre Tätigkeit in der Phonografischen Kommission für den Sprachgruppenführer, für Herrn Prof. Lüders möglichst umgehend zu verfassen, und wenn anhängig, mit Schreibmaschine in 2 Exemplaren schreiben lassen und der Kommission zusenden zu wollen; eventuell entstehende Kosten für Schreibmaschinenarbeiten werden von der Kommission ersetzt.
Der Vorsitzende der Kommission bittet ferner die Herren Mitglieder und Mitarbeiter für seinen
eigenen Vorbericht um genaue Mitteilung darüber:
a) Ob eine pekuniäre Unterstützung von Seiten einer Akademie oder einer sonstigen Quelle ausserhalb der Kommission für ihre Arbeiten mit den Kriegsgefangenen zuteil geworden ist;
b) Ob sie ausser den Arbeiten für die phonografische Aufnahmen noch andere Arbeiten zu den Kriegsgefangenen ausgeführt haben, zu denen sie durch ihre Tätigkeit der Kommission veranlasst wurden. Auch über die Art dieser Arbeit wären einige Mitteilungen erwünscht.
c) Haben bereits Veröffentlichungen stattgefunden, so wird gebeten, diese mit Ort und Datum namenhaft zu machen; auch wenn ausserhalb einer sonstigen Veröffentlichung auf die Arbeiten der Kommission oder die sich daran schließenden Studien des Verfassers an den Kriegsgefangenen Bezug genommen wurde, wird um Anführung gebeten, da ein möglichst vollständiges Bild von den weit und tief greifenden wissenschaftlichen Anregungen gegeben werden soll, die von dem Unternehmen ausgegangen sind. Die Kommission muss ihre Arbeiten zum Abschluss bringen; infolgedessen werden Sie höflichst gebeten die von Ihnen aufgezeichneten Texte (Sprachtext, Lauttext, und Übersetzung) als Ergänzung für die Lautplatten möglichst schnell fertig stellen und der Kommission gleichfalls einsenden zu wollen.
Im Auftrag
Wilhelm Doegen
Hier geht es zu den Quellen der Recherche
Assmann, Aleida (1999): Erinnerung als Erregung: Wendepunkte der deutschenErinnerungsgeschichte (Vortrag in der Geisteswissenschaftlichen Klasse am 9. April 1999).
Kaiser, Gerhard (1993): Sperrgebiet: die geheimen Kommandozentralen in Wünsdorf seit 1871.
Lange, Britta (2019): Gefangene Stimmen. Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen aus dem Lautarchiv 1915-1918.
Mario Rufer (2012): “Politics of Memory”. InterAmerican Wiki: Terms – Concepts – Critical Perspectives. https://www.uni-bielefeld.de/einrichtungen/cias/publikationen/wiki/p/politics-of-memory.xml
Nicole Maurantonio (2014): The Politics of Memory, in: The Oxford Handbook of PoliticalCommunication, editet by Kate Kenski ans Kathleen Hall Jamieson. Oxford: Oxford University Press (pdf).
“Nicht bloss tote Papierlinguistik“: Iranische Sprachstudien im Göttinger Kriegsgefangenenlager Ebertal während des Ersten Weltkriegs als transnationales Ereignis – Masterarbeit (2020) von Lena Glöckler
Frank, Heidemarie (2017): Der Göttinger Stadtfriedhof. Ein biografischer Spaziergang.
Roy, Franziska, Liebau, Heike, Ahuja, Ravi (Hg.) (2014): Soldat Ram Singh und der Kaiser.Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914-1918.
Wolfgang Kaschuba (2001): Erinnerungspolitk im Nachkriegsdeutschland. Eine Erinnerung –
Internetquellen:
https://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/kurzbiographien/friedrich-carl-andreas
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtfriedhof_(G%C3%B6ttingen)
http://goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/orte/kriegsgefangenenlager-ebertal
http://goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/lehre/personen/eine-gefangene-stimme-oder-die-geschichte-des-schahdad-khan-in-goettingen
http://goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/kurzbiographien/schahdad-khan
https://www.private-banking-goettingen.de/michaelishaus/index.html
https://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/orte/kriegsgefangenenlager-ebertal
https://www.goettingenkolonial.uni-goettingen.de/index.php/kurzbiographien/schahdad-khan
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