von Lisa Binder und Lara Müller
Einleitung
Direkt am Eingang liegt das Auditorium, ein Wahrzeichen wie kein zweites in der „Stadt, die Wissen schafft“. Hochherrschaftlich thronen dort die Büsten von bedeutenden Wissenschaftlern. Und links, mehrere Meter in der Höhe, schaut auch Prof. Dr. Blumenbach auf die Bürger*innen Göttingens hinab. Und das, obwohl die dazugehörige Plakette kaum etwas über seine Forschung und die Kontroversen, die ihn bis heute umgeben, verrät.
Im folgenden Beitrag werden wir uns mit ihm beschäftigen: mit seiner Forschung, mit seinem Einfluss auf die Wissenschaft, auf die Stadt und auch mit der Aufarbeitung seines Erbes.
Dafür mussten wir uns auch mit der zeitgenössischen Sprache aus den überlieferten Quellen und Briefen auseinandersetzen. Diese sprechen teilweise von menschlichen “Rassen” und benutzen entsprechende Begrifflichkeiten wie das N-Wort, um diese zu kategorisieren. Wir haben diese Begrifflichkeiten durchgestrichen, um deutlich zu machen, dass wir mit ihnen keine Menschen verletzen wollen, sondern lediglich einen Einblick in die Quellenlage gewähren möchten.
Wir haben außerdem eventuell an verschiedenen Stellen im Text nicht gegendert, gerade wenn es um zeitgenössische Personengruppen geht. Zur Zeit Blumenbachs waren Frauen nicht an Universitäten zugelassen; erst ca. 100 Jahre später war es ihnen erlaubt, zu studieren. Auch hier möchten wir niemanden diskriminieren, sondern bloß den Geist der Zeit einfangen.
Wer war Johann Friedrich Blumenbach?
Johann Friedrich Blumenbach war ein bedeutender Anthropologe, Mediziner und Biologe des 18. und 19. Jahrhunderts. Er ist so wichtig für die Universität Göttingen, weil er hier gelebt und gelehrt hat. Blumenbach war eine Koryphäe seines Feldes, hat Forschungen betrieben, welche internationale Bekanntschaft erlangten und ist bis heute einer der berühmtesten Professoren Göttingens.
Johann Friedrich Blumenbach hat sich unter anderem mit dem menschlichen Körper beschäftigt. Ihn interessierte alles: Woher kommt der Mensch? Aus welchen Einzelteilen besteht er? Wie pflanzt er sich fort? Wie stirbt er? Und schließlich auch: Wie unterscheidet sich ein Mensch vom anderen?
Um all diese Fragen beantworten zu können, stand Blumenbach selbstverständlich im engen Austausch mit anderen Forschern seiner Zeit. Was ihn allerdings von vielen seiner Zeitgenossen abhob und darum Ausdruck seines immensen Stolzes war, war seine Sammlung menschlicher Schädel. Zu seiner Zeit ließ sich Blumenbach circa 250 Schädel mitbringen. Heute bezeichnen wir die Schädel auch als Human Remains – also als das, was von einem Menschen verbleibt. Nach Blumenbachs Tod wurde seine Sammlung von seinen Schülern erweitert, sodass sie mit der Zeit etwa 800 Schädel umfasste. Darunter sind Schädel von deutschen Ausgrabungen, aber auch Human Remains aus dem Ausland, zum Beispiel aus Namibia oder Ozeanien. Wie Blumenbach an diese Schädel gekommen ist, werden wir später noch erklären.
Mit diesen Schädeln konnte Blumenbach die Auswirkungen von Verletzungen und Krankheiten auf menschliche Knochen untersuchen – so ist Skorbut zum Beispiel tastbar. Allerdings blieb es nicht nur bei dieser frühen Form der Paläopatholgie; Blumenbach nutzte die Schädel nachweislich auch, um Menschen zu kategorisieren.
Ein Mann seiner Zeit
Zu der Zeit Blumenbachs wurden viele Erkenntnisse über den menschlichen Körper gewonnen. Darwins Evolutionstheorie beispielsweise trug immens zu unserem heutigen biologischen Wissensstand bei. Diese Theorie, nach der ein Mensch sich aus einem gemeinsamen Vorfahren mit den Affen entwickelte, schlug hohe Wellen und berührte nicht nur die Körperwissenschaften, sondern auch die Gesellschaftswissenschaften. Der Aspekt des “Survival of the fittest” wurde beispielsweise so umgemünzt, dass die – eigentlich biologische – Theorie Darwins nun auch auf Gesellschaft und Kultur angewendet werden konnte. Nach der Theorie des sogenannten Sozialdarwinismus musste und sollte ein Mensch also auch in sozialer Hinsicht auf das Fortbestehen und den Erfolg seiner sogenannten “Rasse” zielen.
Die Forschung und Theorien Darwins produzierten jedoch nicht nur positive Aufmerksamkeit. Darwin musste sich genauso mit kritischen Zeitgenossen auseinandersetzen, die am christlichen Schöpfungswunder festhalten wollten und über die Evolutionstheorie und ihren Erfinder spotteten:
Auf evolutionstheoretischer Ebene war Darwin jemand, der sich eigentlich bloß in eine Reihe von gleichgesinnten Wissenschaftlern einfügte. Denn sowohl Darwin als auch Blumenbach – wie viele andere Forscher dieser Zeit – waren sich in einem ganz grundlegenden Theoriebaustein einig: beide vertraten die Theorie der Monogenese. Die Monogenese ist eine Ansicht, nach der alle Menschen einen gemeinsamen Vorfahren haben und miteinander verwandt sind. Auch heute sagt der gemeinsame Wissenskonsens, dass die Monogenese am einleuchtendsten ist. Das war jedoch nicht immer so trivial, wie es heute scheint. Damals musste sich die Monogenese gegen ihre Gegenströmung, die Polygenese, behaupten. Nach der Theorie der Polygenese sind die Menschen zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedlichen Kontinenten entstanden. Das heißt, sie hatten einen unterschiedlichen Ursprung, gehörten eventuell nicht einmal zur selben Spezies und waren nicht miteinander verwandt.
Für Darwin war der gemeinsame Vorfahre der Menschen klar. Aber auch Blumenbach nahm die Monogenese als Voraussetzung für seine weitere Forschung an. So verglich er – anhand seiner Schädelsammlung – Menschen, die rein äußerlich nicht unterschiedlicher hätten sein können, und stellte doch fest, dass sie sich noch immer ähnlicher seien als dem Orang-Utan, das dem Menschen nächstähnliche Säugetier. Daraus schlussfolgerte er, dass alle Menschen also durchaus zu einer Spezies gehörten und evolutionär einen gemeinsamen Vorfahren gehabt haben mussten.
Obwohl das Prinzip der Monogenese zunächst moderner scheint, resultierte auch daraus nicht zwingend eine humane Weltanschauung. Aus der Sicht einiger damaliger Wissenschaftler wurde vielmehr angenommen, dass die Kultur des Westens – nun, wo klar war, dass jeder Mensch die gleichen biologischen Voraussetzungen hatte – auch zu den Menschen in „fremden Ländern” gebracht werden sollte. Schließlich wurde die “westliche Zivilisation” aus ihrer eigenen Perspektive als weitentwickelste Kultur verstanden – nun war es, nach der Vorstellung des damaligen Europas, am weißen Mann, seine eigene Kultur auch in Kolonialgebieten durchzusetzen. Auch durch die Theorie der Monogenese war es also möglich, Kolonialismus zu legitimieren.
Sammeln, Einordnen, Hierarchisieren
Obwohl Blumenbach also durchaus das Prinzip der Monogenese vertrat, wird er trotzdem oft als einer der Begründer der Rassenforschung und -lehre genannt. Doch warum ist das so?
Grundsätzlich muss erst einmal festgestellt werden, dass die Wissenschaft den biologischen Rassismus begründete. Dies meint besonders Rassismen, die ihre Legitimation aus dem Körper des Menschen ziehen – also so wie Blumenbach aus den Schädeln, die er sammelte. Mit der Zeit unterschied Blumenbach zwischen fünf “Menschenrassen”, die er rein äußerlich an den typischen Maßen seiner Schädel festmachen konnte.
“Die Nationalverschiedenheit der Schädel erstreckt sich wie es scheint zum Theil selbst auf die stärkere oder mindere Dicke und auf die davon abhängige Schwere, so wie auf die Größe, namentlich den Umfang der Hirnschale.”
Unten, am Seitenrand, merkt Blumenbach an:
“So sind die
Negerschädelin meiner Sammlung dick und schwer, hingegen die so ich von Grönländern undEskimosbesitze dünn und leicht.”
Interessant ist, dass sich durchaus eine Entwicklung in der Terminologie Blumenbachs feststellen lässt. So spricht der Professor anfangs, 1806 in seinen “Beyträgen zur Naturgeschichte”, noch von menschlichen “Variationen” und später, im zweiten Teil 1811, von den sogenannten “Stammrassen”.
Es ist unklar, inwiefern diese Einteilung von Blumenbach wertend gemeint war. Fest steht, dass er die “kaukasische Rasse” als schönstgebildete betrachtete:
“Am auffallendsten sichtlichsten aber zeigt sich diese Verschiedenheit in der ausgezeichnet charakteristischen Form der Schädel von den worein sich das Menschengeschlecht am natürlichsten eintheilen läßt, wo dann die von der Kaukasischen Rasse als die schönstgebildete in der Mitte steht und von der einen Seite durch die Malanische in die Aethiopische, so wie von der andern durch die Amerikanische zur Mongolischen übergeht; so daß in der ganzen Stufenfolge; die Schädel des
Negersund des Calmucken die beiden Extreme machen.“
Auch diese Aussage wird von Blumenbach allerdings wieder eingeschränkt: Diese Ansicht habe er bloß, weil er die Schädel als westlicher Europäer betrachte. Fest steht, dass noch immer Zeichnungen von den Besuchern seiner Vorlesungen existieren, welche die fünf “Stammrassen” in einer Hierarchieform aufzeichneten – mit der “kaukasischen Rasse” ganz oben in der Mitte.
Trotzdem merkte Blumenbach in seinen Forschungen auch immer wieder an, dass es innerhalb einer dieser “Rassen” größere Unterschiede geben könnte als zwischen den “Rassen”. Und noch viel wichtiger: diese Unterschiede bezogen sich nach ihm auch immer bloß auf die äußere Gestalt eines Menschen, niemals aber auf sein Inneres. So hätten schwarze Menschen die gleichen Anlagen zur Gutherzigkeit wie weiße Menschen, ihr Verhalten würde daher stammen, dass sie in der Sklaverei viel Unrecht erfahren müssten.
Blumenbach verteidigte diese Ansicht auch gegenüber seinem Göttinger Kollegen Christoph Meiners, welcher wiederum Professor für Ethnographie und Philosophie an unserer Universität war.
Wissenschaftsnetzwerke – Handelsnetzwerke und
koloniale Zwangszustände
Jetzt wissen wir zwar, für was Blumenbach diese Schädel nutzte, doch noch nicht, wie er an diese schiere Masse von Human Remains gekommen ist.
Die ersten Gebeine kamen aus Europa, so wie viele Human Remains, die für wissenschaftliche Zwecke gesammelt wurden. Durch Blumenbachs Publikationen und Bekannte baute sich der Wissenschaftler ein gigantisches Netzwerk auf. Was man heute über LinkedIn macht, passierte damals noch mit Feder und Papier. Die Post hatte damals noch eine ganz andere Stellung in der Gesellschaft und auch die Masse an Briefen, die heutzutage noch von Blumenbach in verschiedenen Archiven lagern, zeigt, dass er ein vielbeschäftigter Mann war. Bald schon umfasste das Netzwerk an Bekannten berühmte Persönlichkeiten. Dazu gehörten Johann Wolfang von Goethe, Martin Heinrich Klaproth oder Fürstin Christiane von Waldeck-Pyrmont.
Der damalige Drang, sich als überlegene Macht zu beweisen, ermöglichte viele Kooperationsmöglichkeiten. So sendete Blumenbach unaufgefordert einige seiner Publikationen an Bekannte und diese reichten sie weiter. Hierbei sollten wir keinesfalls die Tragweite der wissenschaftlich ausgerichteten Magazine unterschätzen, in denen Blumenbach immer wieder Texte und Berichte veröffentlichte. Diese Magazine hatten zwar selten große Auflagen, doch zogen immer weitere Kreise durch Europa.
Irgendwann ergab es sich, dass ein Wissenschaftler aus Batavia Blumenbach ein Päckchen zusandte. Darin befanden sich verschiedenste Schädel. Diese stammen aus dem heutigen China, aber auch aus Bali, Indonesien und Neuguinea. Das ist nur eines von vielen Beispielen, bei denen ihm die Human Remains unaufgefordert gegeben wurden.
Eine ganz besondere Freundschaft
Zu den bekanntesten und am besten vernetzten Freunden Blumenbachs gehörte wohl der Brite Sir Joseph Banks. Kein unbekannter Name, wenn man sich mit der britischen Kolonialgeschichte beschäftigt. Banks nahm nämlich mit 20 Jahren an der sogenannten Cook-Expedition teil. Diese “Expedition” zielte auf Bereiche des heutigen Tahiti, Neuseeland und Australien. Schon auf dieser Reise begann Banks mit menschlichen Überresten Handel zu treiben. Die beiden Freunde lernten sich über das gemeinsame Interesse an der Botanik und Naturkunde kennen. Insgesamt umfasst die noch bestehende Korrespondenz der beiden knapp 200 Briefe, die in den Göttinger Universitätsarchiven und der British National Library lagern. Die Briefe umfassen einen Zeitraum von knapp 36 Jahren und enden mit der Beileidsbekundung Blumenbachs an Banks Ehefrau im Jahr 1820.
Wenn man sich vorstellt, wie groß der damalige Aufwand war, einen transnationalen Brief zu versenden, zeigt es nur mehr, wie wichtig die Beziehung der beiden für die eigene Forschung, aber auch für die Wissenschaftswelt waren. Ab dem Jahr 1787 wechselten die beiden fast monatlich Briefe und noch viel wichtiger: Pakete.
1783 richtet sich Blumenbach direkt an Banks mit einer konkreten Nachfrage.
(französisches Original aus dem Blumenbach online Archiv)
Pardonnez moi donc Monsieur mon hardiesse si je m’adresse directement à Vous même, en Vous demandant si Vous croyez la chose possible de me procurer, si non un crane en question, au moins une copie en plâtre; ou un dessin executé avec accuratesse mathematique; ou seulement une | Silhouette d’un crane pareil. Je serois infinement charmé si je pouvois trouver jamais une occasion pour Vous
“Bitte verzeihen Sie mein Herr meine Kühnheit, wenn ich mich direkt an Sie wende mit der Frage, ob Sie sie es für möglich halten, mir entweder einen fraglichen Schädel dieser Sorte zu beschaffen oder wenigstens eine Kopie aus Gips oder eine Zeichnung ausgeführt mit mathematischer Genauigkeit oder auch nur eine Siluette, einen Scherenschnitt eines solchen Schädels. Ich wäre unendlich entzückt, wenn ich jemals eine Gelegenheit fände, um ihnen durch praktische Dienste meine Ehrerbietung bezeugen zu können, mit der ich die Ehre habe, Monsieur, ihr bescheidener, gehorsamer Diener zu sein. Gezeichnet Johann Friedrich Blumenbach.”
(Übersetzung von Rebecca von Campenhausen)
Auf diese Bitte hin folgten einige Päckchen von Banks.
Im Jahr 1798 war es der sogenannte “Karibik-Schädel”. Diesen hatten Banks vorher extra extern auf seine Echtheit überprüfen lassen. Hierbei ist wichtig zu verstehen, dass eine damalige Überprüfung auf Echtheit nicht den heutigen Methoden und wissenschaftlichen Standards entspricht. Somit ist eine solche Überprüfung nicht vollkommen ernst zu nehmen. Es zeigt uns aber, welchen Rang Banks Blumenbach zugestand. Für einen hoch respektierten Wissenschaftler seiner Zeit war er gewillt, einen größeren Aufwand zu betreiben.
Im sogenannten Letter 565 heißt es dann:”
Sir it is impossible to express You the Sentiments of joy & of gratitude which I felt at the delightful contents of Your last kind Letter. I see just now by an other from Dr Dornford that the pretious Scull You favour’d me with is already in the hands of Mr Best who will send it over to me with the next opportunity. It will be the greatest ornament of my collection, & a new proof of the noble Spirit You possess to promote all attempts for the increase of natural philosophy, as well as an inestimable testimony of the favour You honour me with. (…)”
“Sir es ist unmöglich Ihnen gegenüber die Gefühle der Freude und Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, die ich durch den entzückenden Inhalt Ihres letzten freundlichen Briefes fühlte. Ich sehe soeben, in einem Anderen von Dr. Dornford, dass der wertvolle Schädel, mit dem Ihr mich beglückt, bereits in den Händen von Herrn Best ist, welcher ihn bei der nächsten Gelegenheit herüberschicken wird. Es wird das großartigste Ornament meiner Sammlung sein und ein erneuter Beweis des noblen Geist, den Sie besitzen, alle Versuche der Besserung der Naturphilosophie zu unterstützen, als auch ein unschätzbares Zeugnis des Gefallen mit dem Sie mich ehren.(…)”
(Übersetzung von Leon Schneider)
Aufgrund seines Forschungsfeldes wissen wir nicht nur aus den Briefen von den Sammelprozessen Blumenbachs. Er katalogisierte seine Sammlungsobjekte auch.
“Nummer 664 : Schedel eines caraibischen Heerführers aus St Vincent. dD. Sir Joseph Banks 1789.“
Im Jahr 1801 überraschte Banks Blumenbach sogar mit einer Mumie. Diese fand bei Blumenbach zwar auch hohe Achtung, doch scheint der “Karibik-Schädel” bei ihm mehr Anklang gefunden zu haben.
Um zu verdeutlichen, welchen Stellenwert diese Human Remains hatten, schaut man sich oftmals die Tauschobjekte dafür an. Denn bei den Human Remains bezahlte man selten, sondern tauschte viel mehr. So auch Blumenbach:
How much should I wish to shew You for the present my thankfulnes in a better way than only by procuring | to You the three Gottingish pamphletsYou mentioned in Your last. They are already sent over to Hannover together with a new Specimen of physiologia comparata I publish’d lately viz. between the mammalia & birds. (…)I intreat the continuation of Your favour & have the honour to be
Sir (Gezeichnet)
Your most faithful & most obedient servant
J. Fred. Blumenbach
Letter 565
Wie sehr ich mir wünsche Ihnen meine Dankbarkeit für das Geschenk auf einem besser Wege zu zeigen als lediglich Ihnen die drei Göttingen Broschüren zu beschaffen, die Sie in Ihrem letzten (Brief) erwähnten. Sie sind bereits auf ihrem Weg nach Hannover, gemeinsam mit einem neuen Exemplare von vergleichender Physiologie, welches ich neulich veröffentlicht habe, nämlich zwischen den Säugetieren und Vögeln.
Ich ersuche die Fortsetzung Ihres Gefallen und habe die Ehre, Sir,
Ihr treuester und ergebenster Diener zu sein
Gezeichnet: J. Fred. Blumenbach
(Übersetzung Leon Schneider)
Heutzutage stellt so etwas keinen Gegenwert mehr dar. Dieser Brief verdeutlicht, dass man den Remains keine Ehre, keine Wertschätzung zugedachte.
Was hier aber wichtig zu verstehen ist, ist, dass die Schädel in Zeiten eines kolonialen Zwangsverhältnisses die Besitzer bzw. Hüter wechselten. Manche wurden einfach aus ihren Gräbern geklaut. Es gibt im Universitätsarchiv Tagebuchaufzeichnung von Wissenschaftlern, die die kolonialen Verhältnisse zum gezielten Grabraub nutzen und diese Vorgänge beschreiben. Zwar nicht aus Ozeanien, aber es erscheint jetzt nicht weit hergeholt, dass man diese Praktiken auch dort anwenden konnte. Andere Human Remains wurden unfreiwillig verschenkt. Wenn man um sein Leben und das seiner Liebsten bangt, tut man auch Dinge, die gegen die eigenen Prinzipien gehen. Somit sind die Schädel aus kolonialen Kontexten in der Sammlung nicht rechtmäßig.
Iwi Kupuna
Woher die Schädel stammen, findet man heute mit historischer Rekonstruktion heraus. Dafür arbeiten Historiker und andere Fachwissenschaftler sowohl aus Deutschland als auch aus Ozeanien zusammen. Heute sehen viele Akteure die Sammlung in einem neuen Licht. Nicht nur in Göttingen, sondern in ganz Europa befassen sich Museen und Universitätssammlungen mit ihrem kolonialen Erbe.
Im Jahr 2019 versammelten sich mehrere Vertreter*innen und Sprecher*innen der ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum und erarbeiteten eine gemeinsame Vorgehensweise zur Entkolonialisierung der Sammlungen. Die sogenannte Heidelberger Stellungnahme verdeutlicht noch einmal die Unrechtmäßigkeit des Erwerbs. Denn gerade diese ist oftmals noch umstritten.
“ Es versteht sich von selbst, dass aufgrund von Unrecht im Moment des Herstellens oder Sammeln in Museen gelangte Objekte – wenn dies von Vertreter*innen der Urhebergesellschaften gewünscht wird – zurückgegeben werden sollen.”
(Link Heidelberger Stellungnahme)
WAS IST EINE RESTITUTION ?
Im digitalen Wörterbuch für Deutsche Sprache erklärt man es so:
1. bildungssprachlich Wiederherstellung
2. a) Völkerrecht: Wiedergutmachung oder Schadensersatz für einen Schaden, der einem Staat von einem anderen zugefügt wurde
b) im römischen Recht: Aufhebung einer Entscheidung, die eine unbillige Rechtsfolge begründete
Mehr über Restitutionen erfährst du hier: Bundeszentrale für politische Bildung
Sensible Provenienzen
Heute gibt es an der Universität Göttingen das von der VW-Stiftung gesponserte Forschungsprojekt “Sensible Provenienzen”. Dieses arbeitet an der Rückführung von Schädeln, welche unter anderem aus der Blumenbach-Schädelsammlung stammen. Das Projekt ist interdisziplinär aufgestellt; das heißt, dass Historiker*innen, Kulturanthropolog*innen und Anatomen gemeinsam versuchen, die Herkunft der Schädel zu bestimmen und die Routen, über die sie transportiert wurden, zu rekonstruieren. Dafür werden beispielsweise die Karteikarten genutzt, welche bei den Schädeln in den Kartons gelagert werden. Mit diesen können beispielsweise die Kapitäne festgestellt werden, welche das Schiff steuerten, mit dem die Schädel nach Deutschland gekommen sind.
Die kulturanthropologischen Mitarbeiter*innen reflektieren diese Provenienzforschung ständig, denn gerade wenn es um biologische Herkunftsforschung geht, soll eine solche Forschung wie die Blumenbachs nicht reproduziert werden.
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Begriff des “Herkunftsortes” nicht unproblematisch ist. Schließlich kann man sich durchaus die Frage stellen, was einen sogenannten “Herkunftsort” überhaupt definiert. Manche Menschen fühlen sich schließlich nicht zwingend einem Ort zugehörig, sondern vielmehr einer Gruppe. Außerdem kann auch der Ort selbst durch Grenzverschiebungen die Regierung beziehungsweise den Staat gewechselt haben.
Mittlerweile sind schon Rückführungen der Schädel nach Ozeanien geglückt! Eine solche ist auf YouTube zu finden:
Tiefer Graben? – DNA Forschung + Ancestry
Zwar ist Blumenbach schon lange Teil der Vergangenheit, doch sein Wirken und die Fragen, die ihn beschäftigten, bestehen noch immer. Woher kommen wir? Mittlerweile versuchen wir das nicht mehr mit Vermessungen und Betrachtungen von Schädeln herauszufinden, sondern mithilfe unserer DNA und den individuellen Codes, die sich darin finden lassen. Auch in der historischen Forschung hat man den Wert von DNA-Analysen längst erkannt. Schon lange nutzt man die DNA aus Knochen, um eine Herkunftsdiagnose zu stellen. Dabei vergleicht man den DNA-Code des Knochen mit einer Datenbank und diese zeigt an, in welchen Regionen die meisten Gemeinsamkeiten auftauchen.
Doch möchten bestimmte Gruppen z.B. Maori nicht, dass die Knochen ihrer Vorfahren beschädigt, also angebohrt werden, da diese für sie heilige Objekte darstellen. Um dieses Problem zu lösen, forscht man gerade an einem Konzept, das man “schonende DNA-Entnahme” nennt.
Was man heutzutage außerdem mit DNA machen kann, ist, sich selbst auf seine Herkunft zu testen. Dafür gibt es viele Dienstleister im Internet. Sie heißen Ancestry, my heritage oder auch Igenea. Hier kann man also als Privatperson schauen, wo die eigene DNA überall zu finden ist. Selten wird auf diesen Dienstleisterwebseiten offen kommuniziert, dass eine DNA-Analyse nur eine Vermutung ist. Schließlich bewegen sich Menschen im Verlauf ihres Lebens zu neuen Städten, Ländern oder Kontinenten. Somit ist ihre DNA nicht immer an die Orte, an denen ihre Lebensreise begann, gebunden. Auch die Datenbank, die diese Unternehmen nutzen, ist in diesem Kontext schwierig. Denn auch diese haben eine Vergangenheit und eine Herkunft. Selten kann man diese Daten gut zurückverfolgen und sie beruhen teilweise sogar auf Aussagen der Herkunft aus Blumenbachs Zeit, also einer Epoche, die wir nicht mehr als wissenschaftlich unproblematisch sehen.
Wenn du also selbst Nachforschungen anstellen möchtest, empfehlen wir eine Vorgehensweise, wie es die Profis des Forschungsprojekts “Sensiblen Provenienzen” machen. Ergänze also eine historische Rückverfolgung mit der DNA-Analyse.
Abschluss
Johann Friedrich Blumenbach erscheint teilweise wie ein Gespenst, welches nicht fassbar in Göttingen herumgeistert. Niemand meint ihn gesehen zu haben und doch findet man überall seine Spuren. Hinter zugezogenen Türen wird über ihn gemunkelt oder offen im Netz laut über seine Person diskutiert. Auch wir hatten teilweise Probleme, ihn zu erfassen. Immer wieder, wenn wir dachten, wir hätten uns ein vollendetes Bild von ihm geschaffen, eigneten wir uns neues Wissen an und wurden überrascht. Am Ende ist es uns noch immer nicht gelungen, diesen berühmten Göttinger Professor so zu beleuchten, dass kein Zentimeter seiner Persönlichkeit und seines Lebenswerkes mehr im Schatten liegt – aber das ist vermutlich auch ein zu ehrgeiziges Unterfangen.
Vielleicht ist es darum wichtiger, den Blick von der Vergangenheit noch einmal auf die Zukunft zu lenken. Die Frage ist schließlich nicht nur: Wo kommen wir – als Menschen, als Bewohner*innen Deutschlands und als Göttinger*innen – her, sondern auch: Wohin gehen wir als Gesellschaft? Die Restitutionen stellen einen guten Anfang dar, aber wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass jede*r einzelne von uns tagtäglich mit den Ergebnissen der Wissenschaft in Berührung kommt, welche Wissenschaftler wie Blumenbach auf (menschen-)unwürdige Art und Weise produziert haben.
Hier geht es zu den Quellen der Recherche
Ein Großteil unserer Arbeit beruht auf Expert*innengesprächen.
Für diesen Artikel haben wir mit:
- Patrick Wittmeier (sensible DNA Entnahme)
- Jonathan Kurzwelly (sensible Provenienzen)
- Prof. Dr. Regina Bendix (sensible Provenienzen)
- Holger Stöcker (sensible Provenienzen)
- Maximilian Chami (University of Tansania)
- Dr. Burke (Expertin für Maori Kultur)
- Sarah Böger (Göttingen Postkolonial und Antidiskriminierungstrainerin)
- Saskia Menssen (Begleitung bei Ancestry Recherche)
Gespräche geführt. Herzlichen Dank dafür! Viele Perspektiven und Hinweise stammen von ihnen.
Weitere Quellen:
Ahrndt, Wiebke u. von Briskorn, Bettina u. Hege, Patrick; Koloniale Provenienzen als Herausforderung – Annäherungen an sensibles Sammlungsgut in: Museumskunde Bd.85 2/2020
Dougherty, Frank W. P.: Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um den Begriff der Menschenrasse. In: Mann, Gunter (Hrsg.)/et al.: Soemmerring Forschungen VI. Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750-1850), Stuttgart 1990, S. 89- 110.
Junker, Thomas: Blumenbach’s theory of human races and the natural unity of humankind. In: Rupke, Nicolaas A./Lauer, Gerhard: Johann Friedrich Blumenbach. Race and natural history. 1750-1850, London, Newyork 2019, S. 96-112.
Kirchhoff, Sascha; Wissen und Schädel – Wissenstransfer und Sammlungsgenerierung durch Johann Friedrich Blumenbachs Gelehrtenbriefwechsel, Göttinger Universitätsverlag, Göttingen 2013
Kroke, Claudia ; Johann Friedrich Blumenbach – Bibliographie seiner Schriften; Schriften der Göttinger Universitätsgeschichte Band 2, Göttingen 2010
Office of Hwaiian Affairs; Connection Between Iwi Kupuna ans Well-being of Native Hawaiian ‘Ohana; OHA 2021
Plümecke, Tino; Rasse in der Ära der Genetik – Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften, transcript, Frankfurt 2013
Internetquellen:
Heidelberger Stellungnahme – MARKK (markk-hamburg.de) (10.06.2023)
Quellen Schädelsammlung (blumenbach-online.de) (10.06.2023)
Historische Quellen:
Blumenbach, Johann Friedrich: Beyträge zur Naturgeschichte. Erster Theil, Göttingen 1806
Blumenbach, Johann Friedrich: Beyträge zur Naturgeschichte. Zweyter Theil, Göttingen 1811
Blumenbach, Johann Friedrich: Johann Friedrich Blumenbach’s Geschichte und Beschreibung der Knochen des menschlichen Körpers, Göttingen 1807
Brosamen zur Blumenbach-Forschung – Der Reihe fünfter Band (2012):
Briefnummern: 650,678,687,691,691,697,740,756,757,773,785,786,794,795,811,816,822,830,833,838,848,849,851,
Bildquelle Darwin Karikatur: https://www.google.com/search?q=darwin%20karikatur&tbm=isch&tbs=il:cl&rlz=1C1CHBF_deDE839DE839&hl=de&sa=X&ved=0CAAQ1vwEahcKEwjA09m61L__AhUAAAAAHQAAAAAQAw&biw=1148&bih=546#imgrc=OlW7hdKhZKQ21M [zuletzt aufgerufen am 13.06.23]
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